Seit zwei Monaten ist Barbara Grützmacher die neue Berner Kantonsärztin. Sie erklärt, wie sie die Corona-Massnahmen lockern würde und warum sie in den Medien deutlich weniger präsent ist als ihre Vorgängerin.
Auf dem Korpus ihres geräumigen, eher karg eingerichteten Büros an der Gerechtigkeitsgasse liegen zahlreiche Biskuit-, Praliné- und Schokoladepackungen. Lassen diese süssen Verführungen auf eine Naschkatze schliessen? «Nein, nein», wehrt Barbara Grützmacher lachend ab. «Sie waren für einen Neujahrs-Teamevent vorgesehen, der wegen Corona vorsichtshalber dann nicht stattgefunden hat. Nun können sich die Mitarbeitenden bedienen, wenn sie zu mir ins Büro kommen.» Ja, die Pandemie, sie lässt die neue Berner Kantonsärztin kaum durchatmen, sie bestimmt ihren Berufsalltag. Selber ist sie bis jetzt von der Erkrankung verschont geblieben, «mindestens verspürte ich nie Symptome», sagt sie vorsichtig. Auch ihre drei Kinder und ihren Partner erwischte das Virus bisher nicht. «Ich bin selber überrascht, denn zwei meiner Kinder gehen zur Schule!» Verhält sich die Ärztin vorsichtiger als die meisten Menschen und wendet sie zusätzliche Massnahmen an? «Nein, überhaupt nicht. Ich verhalte mich so, wie wir es der Bevölkerung empfehlen. Auf Restaurantbesuche verzichte ich nicht und ich benütze auch die öffentlichen Verkehrsmittel. Wir hatten wohl bisher einfach Glück», vermutet sie. Einzig während der Festtage sei sie mit Kontakten etwas zurückhaltender gewesen, weil man damals noch wenig über die Krankheitsverläufe der Omikron-Variante wusste.
Der Grund für die Zurückhaltung
Obwohl Barbara Grützmacher noch nicht 100 Tage im Amt ist, ist sie vollständig in ihrer neuen Aufgabe angekommen. Nun, so neu ist diese zwar nicht, war sie doch in derselben Funktion schon im Kanton Freiburg tätig und vor ihrer Ernennung zur Berner Kantonsärztin vertrat sie ihre Vorgängerin Linda Nartey. «Damals widmete ich mich ausschliesslich der Pandemie, heute bin ich auch für die übrigen, nicht minder wichtigen Aufgaben des Kantonsärztlichen Dienstes verantwortlich», umreisst sie ihren Stellenbeschrieb. So entspricht denn die neue Funktion genau ihren Vorstellungen. Wird sie etwas anders machen als ihre Vorgängerin? Barbara Grützmacher überlegt kurz, die Frage scheint sie zu überraschen, dann lacht sie: «Ich finde, sie hat es sehr gut gemacht. Deshalb stellt sich die Frage für mich zurzeit nicht.» Sie schliesse aber nicht aus, dass sie in einigen Monaten, wenn hoffentlich wieder so etwas wie Normalität eingekehrt sei, eine Art Auslegeordnung vornehmen werde. «Dann wird sich zeigen, ob sich die eine oder andere ‹Justierung› aufdrängt», fügt sie hinzu. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin war Barbara Grützmacher bisher kaum in den Medien präsent; gehört das zu ihrem Stil? «Nein, aber wir haben eine ausgezeichnet funktionierende Medienstelle, welche diese Aufgaben wahrnimmt», begründet sie ihre vermeintliche Zurückhaltung. Ihre Vorgängerin sei vor allem in ihrer damaligen Funktion als Vizepräsidentin der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte der Schweiz (VKS) im Blitzlicht der Medien gestanden.
Föderalismus: ja, aber …
Der Kantonsärztliche Dienst zählt normalerweise zehn Mitarbeitende. Während der Pandemie wurde der Dienst um ein temporäres, sogenanntes Ausbruchsteam aufgestockt. «Dieses Team besteht aus Ärzten, Pflegefachpersonen und Statistikerinnen und Statistikern. Diese betreuen Anliegen von Spitälern, Heimen und weiteren Institutionen und erstellen die Datenanalysen», erklärt Barbara Grützmacher. Hat sie noch den Überblick im föderalistischen Wildwuchs der Massnahmen? «Wir tauschen uns regelmässig mit anderen Kantonsarztämtern aus, setzen uns wöchentlich mit dem Bundesamt für Gesundheit BAG zusammen, ebenso jeden Freitag mit den Kantonsärztinnen und -ärzten der Romandie. Da versuchen wir, die Massnahmen so weit als möglich zu vereinheitlichen, damit es keinen Flickenteppich gibt. Einfach ist es aber tatsächlich nicht», räumt die Kantonsärztin ein. «Die guten Seiten des Föderalismus überwiegen bei weitem, aber die Massnahmen wären einfacher zu managen, wenn sie zentralistisch gesteuert würden.» Zurzeit schiessen die Fallzahlen schweizweit durch die Decke, die Zahl der Intensivpflegefälle geht indes zurück. Auch sorgt die neue Schwestervariante BA.2 von Omikron erneut für Schlagzeilen. Besteht wieder Grund zu Besorgnis? «Die wenigen Daten, die wir zu BA.2 haben, zeigen, dass die Variante noch etwas ansteckender ist, aber die Verläufe sind nicht gravierender. Das lässt mich hoffen und ich sehe Licht am Ende des Tunnels», beruhigt die oberste Ärztin des Kantons. Von einem gleichzeitigen, totalen Runterfahren aller Massnahmen, wie sie bürgerliche Kreise zurzeit fordern, hält Barbara Grützmacher nichts. Viel eher sei überlegtes, etappenweises und organisiertes Aufheben der Massnahmen gefragt. «Lockern mit ‹Raison›», ergänzt sie schmunzelnd.
Peter Widmer