Bb 160620 Racial Profiling Web

«Wir alle sind rassistisch sozialisiert worden»

Nelly Fonje und Mohamed Wa Baile sind zwei von vielen POC (People of Colour) in Bern. Im Bärnerbär berichten sie über erlebten Rassismus im Alltag.

Die Menschen sind wütend. Und sie erheben ihre Stimme. Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd demonstrieren nicht nur in den USA fast täglich Zehntausende gegen Polizeigewalt und Rassismus. Auch in Bern nahmen am Samstag rund 4000 Leute an einer Kundgebung teil. Der Bärnerbär wollte wissen: Welche Erfahrungen machen POC in Bern? Fühlen sie sich in der Hauptstadt wohl? Auf der Münsterplattform haben wir Nelly Fonje (42, Gymnasiallehrerin) und Mohamed Wa Baile (46, Bibliothekar an der Uni Bern) für ein Gespräch getroffen. Eine Übersicht ihrer wichtigsten Aussagen. Unkommentiert.

« Zur Frage, woher ich komme, antworte ich oft mit: Bern. Doch meistens reicht diese Antwort nicht aus. Man insistiert und hakt nach. ‹Woher kommen Sie denn wirklich?› Was soll das? Das löst bei mir das Gefühl aus, nicht dazuzugehören. Immer wieder die gleichen Fragen beantworten zu müssen, ist auf die Dauer äusserst anstrengend.»
Nelly Fonje über mühsame Alltagsstrategien.

« Natürlich sind einige Polizeikontrollen legitim. Die Frage ist nur, aus welchem Grund. Und der ist regelmässig rassistisch. Diese Erfahrung machen weisse Menschen nicht. Als ich früher mit dem 6-UhrZug von Bern an die ETH Zürich fuhr, wurde ich in Olten regelmässig rausgenommen. Häufig handelte es sich um die gleichen Polizisten und Polizistinnen wie eine Woche zuvor. Alle anderen Passagiere im Abteil wurden hingegen nicht überprüft. Es sind diese rassistischen Handlungen, die einem das Leben erschweren.»
Mohamed Wa Baile über seine Erfahrung mit alltäglichem Rassismus.

« Es passiert praktisch jeden Tag. Sobald ich das Haus verlasse, bin ich mir bewusst, dass ich eine Person of Colour bin. Es sind Blicke, Kommentare, Fragen. Aus dem Nichts werde ich gefragt, ob ich adoptiert sei, aus dem Nichts werde ich für mein gutes Deutsch gelobt, aus dem Nichts werde ich gefragt, wo sich meine Eltern kennengelernt hätten…Begegnungen mit unbekannten Menschen werden häufig sehr schnell persönlich.»
Nelly Fonje über psychische Gewalt.

« Ich persönlich benutze den Ausdruck nicht. Dass alle schwarzen Leute diesen Begriff in ihrem sozialen Umfeld gebrauchen, ist eine Generalisierung. Allerdings finde ich auch, dass schwarze Menschen das sagen dürfen. Wenn jemandem dieses Wort beanspruchen darf, dann wir. Es gehört uns.»
Mohamed Wa Baile fragt nach, warum weisse Menschen so gerne das N-Wort benutzen möchten.

« Das Label steht eigentlich für Toleranz, sicher. Doch häufig glauben Menschen, es könne nicht sein, dass sie sich rassistisch ausdrücken oder dass sie rassistisch handeln, gerade eben weil sie doch links und grün sind. Nur weil etwas nicht rassistisch gemeint war, heisst das indes nicht, dass es nicht tatsächlich rassistisch war. Wir alle sind in einem rassistischen System sozialisiert worden. Beispielsweise wird Christoph Kolumbus in Schulbüchern als Entdecker gefeiert. Aus menschlicher Sicht, insbesondere jener der Native Americans, ist er aber kein Entdecker und sollte erst recht nicht gefeiert werden.»
Nelly Fonje zum Einwand, die Stadt Bern müsste als links-grüne Hochburg besonders auf das Thema Rassismus sensibilisiert sein.

« Wenn mich die Polizei kontrollieren will, nehme ich das nie persönlich. Es geht nicht um mein subjektives Gefühl. Ich erlebe auch nicht den jeweiligen Beamten als böse oder rassistisch. Es ist nicht persönlich, es ist strukturell. Es liegt ein Systemfehler vor. Ja, die Polizei muss anerkennen, dass sie ein strukturelles Problem mit Rassismus hat.»
Mohamed Wa Baile führt aus, wieso er bei einer Kontrolle seinen Ausweis nie zeigt und dafür riskiert, eine Busse zu erhalten und mit auf den Posten mitgenommen werden zu müssen.

« Aufgrund der Vorkommnisse in den USA herrscht allgemein eine riesige Solidarität. Tausende gehen auf die Strasse und demonstrieren. Ich hoffe sehr, dass aus dieser Betroffenheit und Energie eine rassismuskritische Haltung und ein rassismuskritisches Handeln erwächst. Wir alle sind Expert*innen in irgendeinem Bereich. Als Lehrperson finde ich zum Beispiel, dass wir an unseren Schulen Gefässe brauchen, um rassismuskritisches Denken und Handeln zu fördern. Dafür setze ich mich ein.»
Nelly Fonje ruft dazu auf, sich in Bezug auf Rassismus Gedanken über das eigene Verhalten zu machen und daran etwas zu ändern.

« Ich wünschte mir ein Quittungssystem, wie es etwa in London existiert. Wenn die Polizei jemanden überprüft, schreibt sie auf einen Zettel, wen sie sich ausgesucht hat, was der Grund für die Kontrolle war und ob sie etwas gefunden hat. Das würde helfen und müsste doch eigentlich für die Polizei ebenfalls einen Vorteil bedeuten. Doch die Schweizer Polizei hat diese Idee bisher nicht umgesetzt.»
Mohamed Wa Baile mit einer von vielen Ideen, bei Polizeieinsätzen anders vorzugehen.

« Für uns als People of Colour ist es sehr ermächtigend, andere POC zu kennen. Durch diesen Austausch sehe ich meine Erfahrungen gespiegelt und kann sie einordnen. Nur wenn ich erfahre, dass das, was mir widerfährt, auch anderen widerfährt, entwickle ich ein Bewusstsein und eine Sprache für meine Realität. Für weisse Menschen wäre ein solcher Austausch im Rahmen von Critical Whiteness genauso wichtig, denn es obliegt der Verantwortung weisser Menschen, sich selbst zu informieren.»
Nelly Fonje über sozialen Austausch und ihren dringenden Appell.

Yves Schott

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