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Der Berner Verkehrsplaner Karl Vogel ist überzeugt, dass Menschen freiwillig umdenken werden. Foto: Daniel Zaugg

«Wir zwingen niemanden»

Weniger Tempo, weniger Parkplätze, weniger Lärm: Der städtische Verkehrsplaner Karl Vogel träumt von einem (fast) autofreien Bern. Die Menschen würden freiwillig umdenken, sagt er. 

Karl Vogel, wie läuft der Verkehr in Bern?

Er läuft gut. Mit der Abwicklung und den Unfallzahlen bin ich sehr zufrieden. Klar, am liebsten hätten wir gar keine Unfälle – doch wir arbeiten daran. Was die Mobilität anbetrifft: Ich bin zufrieden, solange sie in die richtige Richtung geht.

Das heisst? 

Unser Ziel ist eine klimaneutrale Mobilität, das heisst: Die Menschen bewegen sich hauptsächlich zu Fuss, mit dem ÖV oder mit dem Velo, der motorisierte Individualverkehr beschränkt sich auf nicht verlagerbare Fahrten, wie etwa den Wirtschaftsverkehr. 

Inwiefern müssen Sie die Bevölkerung eigentlich zwingen, auf das Auto zu verzichten und in welchem Ausmass passiert das von selbst? Die Stadt Bern lenkt die Menschen in diesem Bereich ja sehr stark.

Wir zwingen niemanden. Das passiert vielmehr durch Push- und Pull-Massnahmen. Am besten funktionieren Lenkungsmassnahmen, wenn sie so attraktiv sind, dass die Leute sie von allein und ohne zu hinterfragen benutzen. Wir reden in dem Zusammenhang von «Attraktionen», die die Leute noch mehr zum Umsteigen animieren. Konkret: ein Gesamtverkehrssystem, das alle Bedürfnisse abdeckt. Dazu gehört zum Beispiel ein gutes Veloverleihangebot. Würde es jetzt obendrauf mit Cargo-Bikes, mit denen sich Güter transportieren lassen, ergänzt, existieren für viele Menschen kaum noch Gründe, warum sie ein Privatauto besitzen müssen.

Das mag sein. Nur ist ein Wohnzimmersofa für ein Cargo-Bike schlicht zu gross. 

(Überlegt kurz) Einverstanden. Doch man kann sich ein Möbel auch nach Hause liefern lassen – das habe ich beim letzten Mal so gemacht. Ab einer bestimmten Warenmenge ist diese Methode womöglich sogar günstiger, als mit dem eigenen Auto hin- und zurückzufahren. In der Stadt Bern gibt es mit DingDong ausserdem einen Veloheimlieferservice. Und nicht zu vergessen ist das Angebot von Mobility, das ebenfalls Lieferfahrzeuge beinhaltet

Wo sehen Sie den Platz des Autos in der Stadt in Zukunft?

Das Auto wird in der Stadt auch in Zukunft einen Platz haben. Ich denke da an den Wirtschaftsverkehr, aber auch an Menschen, die nicht mehr gut zu Fuss sind. Die Erreichbarkeit muss garantiert sein. Wir kommen sowieso nicht darum herum, mindestens einen Streifen für den motorisierten Individualverkehr zur Verfügung zu stellen. Die Frage ist einfach: Braucht es dafür immer zwei Spuren? Zudem: Wenn es dermassen attraktiv ist wie aktuell, mit dem Auto von A nach B durch die Stadt zu fahren  …

… aus Ihrer Warte zu attraktiv?

Grundsätzlich schon. Ich meine: In der Nebenverkehrszeit ist es kein Problem, mit dem Auto die Innenstadt rasch zu passieren. Zu attraktiv in dem Sinne, als dass ich nicht gezwungen bin, auf ein anderes Verkehrsmittel umzusteigen. Und dass der Autoverkehr nicht der stadtverträglichste ist, ist kaum mehr bestritten. Aber nochmals: Notwendige Fahrten müssen möglich sein, das ist mir ein Anliegen.

Verkehrstechnisch ist in Bern generell einiges im Wandel: das laufende Projekt Zukunft Bahnhof Bern ZBB, die geplante zweite Tramachse … worauf liegt Ihr persönlicher Fokus?

Meine Priorität gilt der Belastbarkeit des Gesamtverkehrssystems. Es muss stabil funktionieren und nicht zusammenbrechen, sobald an einer bestimmten Stelle Druck entsteht. Dafür benötigt es gewisse Steuermechanismen, indem der Verkehr an bestimmten Punkten zurückgehalten wird. Die zweite Tramachse, das Projekt ZBB mit der neuen SBB-Unterführung und den Fussgängerströmen – das hängt alles miteinander zusammen. Während der Intensivphase wird der Verkehr auf dem Bahnhofsplatz neun, zehn Monate lang komplett unterbrochen. Wie managen wir das? Einen Überblick über dieses Gesamtsystem zu haben und es belastbar zu halten, beschäftigt mich momentan sehr stark. 

Wie sieht folglich ein optimales Verkehrssystem für die Stadt Bern aus? 

Erstens muss die Verkehrssicherheit gewährleistet sein. Zweitens: Der öffentliche Verkehr soll immer fliessen, der Privatverkehr darf auch mal dosiert werden. Dort, wo der ÖV ein eigenes Trassee hat, funktioniert das bereits ziemlich gut, obwohl ich mir wünschte, den Wirtschaftsverkehr priorisieren zu können. Im Mischverkehr dürfen Rückstaus hingegen nie so weit zurückreichen, dass sie bei einem dahinterliegenden Knoten zum Kollaps führen. Dann ist ein System resilient. 

Was sind die neuralgischen Punkte?

Eindeutig der Thunplatz und das Burgernziel, dazu die Zufahrtsstrassen zum Inselplatz und der Bereich beim Bierhübeli.

Die Stadt Bern setzte sich zum Ziel, dass bis 2030 jede fünfte Fahrt mit dem Velo zurückgelegt wird. Nun haben Sie sich diesen Wunsch schon heute praktisch erfüllt, wie neue Zahlen zeigen. Was bleibt beim Velonetz zu tun?

Auch hier ist die Sicherheit das A und O. Die Sicherheit, wie wir sie uns vorstellen, haben wir im Masterplan Veloinfrastruktur entwickelt. Der Masterplan sieht in Bern ein Netz von zirka hundert Kilometern vor, angedacht sind Velostreifen von idealerweise rund zweieinhalb Metern Breite. Umgesetzt davon sind momentan ungefähr 10 bis 15 Prozent. Es gilt, eine Veloinfrastruktur mit Klimaanpassungsmassnahmen inklusive ÖV und Privatverkehr zu realisieren. Für die ideale Umsetzung, also Velostreifen von zweieinhalb Metern Breite, fehlt leider oft der Platz. Denken Sie bloss an die Thunstrasse. Die grösste Herausforderung ist daher, eine Infrastruktur zu bauen, die jenen, die sie nutzen, gerecht wird.

Selbst innerhalb der Velostreifen herrscht Dichtestress: E-Biker überholen langsamere Velofahrende und müssen dabei darauf achten, nicht von einem Auto touchiert zu werden.

Das erlebe ich ebenfalls so. Hier würden die angesprochenen breiten Velostreifen Abhilfe schaffen. Zudem wäre bei Tempo 30 die Gefahr, mit einem schnellen E-Bike von einem Auto überholt zu werden, kaum mehr vorhanden.

Sie wollen in der Stadt Bern nach wie vor generell Tempo 30 einführen?

Die Städtekonferenz Mobilität fordert, dass Tempo 30 in den Städten zur Norm wird und Tempo 50 zur Ausnahme. Ich unterstütze diese Forderung, denn eine Temporeduktion mindert den Lärm und erhöht die Sicherheit. Durch Tempo 30 wird das Autofahren ja nicht verboten. Die Verkehrsmenge wird nicht einmal beschränkt. Wir sagen auch, dass im Bereich von Einfallsachsen, beispielsweise von und zu den Autobahnen Tempo 50 beizubehalten ist.

Andererseits wird der motorisierte Individualverkehr MIV kontinuierlich ausgebremst. Und das passiert ja mit Absicht.

In der Stadt ist Verkehrsplanung vor allem auch eine Platzfrage. Weil die Bevölkerung wächst, der öffentliche Raum aber begrenzt ist, setzen wir auf flächeneffizienten Verkehr, wie den ÖV oder Fuss- und Veloverkehr. Eine Eindämmung des MIV ist sowohl von der Politik wie von der Bevölkerung gewünscht. Ich möchte aber eines klarstellen: Ich habe noch nie aus heiterem Himmel einen Autoparkplatz aufgehoben. Das passiert einzig, wenn es einen triftigen Grund dafür gibt, zum Beispiel Durchfahrtsbreiten für die Feuerwehr, Verkehrssicherheit oder Aufenthaltsqualitäten. 

Auf der Monbijoubrücke haben Autos seit längerem nur noch eine Spur zur Verfügung, zudem wurde ein Ampeldosiersystem eingeführt. Christian Beiner, Leiter Verkehrsmanagement und Verkehrstechnik des Tiefbauamts, erklärte in der «BZ», dadurch würde der Verkehr flüssiger. Mit Verlaub: Das ist schlicht falsch. 

Die Aussage von Christian Beiner bezog sich auf die gesamte Achse Eigerplatz-Ostring und eben gerade nicht isoliert auf die Monbijoubrücke, denn dort wird dosiert. Damit der Verkehr insgesamt flüssiger fliessen kann, braucht es an bestimmten Orten Dosiersysteme. Zugegeben, zu Beginn lief es suboptimal, weil eine Ampeleinstellung justiert werden musste. Das hat man nun geändert. Solche Anpassungen sind bei Veränderungen der Verkehrsflüsse normal. Wir analysieren den Verkehrsfluss auf der Monbijoubrücke. Wahrscheinlich im Herbst werde ich Genaueres sagen können.

Yves Schott

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