Monika Litscher, Vize-Direktorin des Schweizerischen Städteverbands, erklärt, was «mobil sein» heute bedeutet, ob Autos in Zentren wie Bern überhaupt noch Platz haben und wie die Stadt der Zukunft aussehen könnte.
Monika Litscher, was sind die grössten Herausforderungen, vor denen Städte wie Bern in Sachen Mobilität stehen?
Eine der grössten ist sicherlich, dass die Mobilität nachhaltig sein sollte. Manche Formen von Mobilität sind schädlicher als andere und zerstören im schlimmsten Fall sogar Lebensgrundlagen. Städte konzentrieren sich daher schon länger auf die drei-Säulen der Mobilität: zu Fuss gehen, Velofahren und den ÖV. Diese Symbiose wäre im Hinblick auf Energie- und Flächeneffizienz ideal, denn der Platz in einer Stadt ist begrenzt. Wie man sich fortbewegt, muss gut überlegt sein.
Für Autos hat es also schlicht keinen Platz mehr.
Bezüglich der angesprochenen Flächeneffizienz ist das Auto kaum das richtige Mittel. Auch ein E-Auto benötigt genauso viel Raum wie ein benzinbetriebenes. Die Fahrzeuge werden zudem stetig grösser, gleichzeitig sitzen jedoch nicht mehr Leute drin.
Wie also lautet der Plan fürs Auto?
Eine gute Frage. Eine Möglichkeit wäre, schweren und grossen Autos oder solchen, die eine schlechte Ökobilanz aufweisen, den Zugang zum Zentrum zu erschweren. Oder aber Parkplätze, ober- oder besser unterirdische, werden geteilt und zeitlich limitiert. Wir vom Städteverband sagen nicht, dass es autofreie Städte braucht, Städte sollen für diejenigen, die darauf angewiesen sind, auch mit dem Auto erreichbar sein. Ein Stadtraum hat allerdings ganz andere Bedürfnisse zu erfüllen als noch vor einigen Jahren – das Areal vor dem Bundeshaus zum Beispiel diente ja bis 2004, Sie erinnern sich wahrscheinlich, als Parkplatz. Heute ist mehr Lebens- und Aufenthaltsqualität für Menschen gefragt, und wegen der Klimakrise Schatten und der Zugang zu Wasser notwendig.
Oft entsteht wiederum der Eindruck, dass der motorisierte Individualverkehr gleich komplett gestoppt werden muss.
Natürlich sollen Möglichkeiten vorhanden sein, etwas zu transportieren – schliesslich bewegen sich nicht nur Menschen fort, sondern es werden auch Güter für die Versorgung in den Städten an- und wegtransportiert. Generell ist ein Stadtraum dann attraktiv, wenn er erreichbar ist für Menschen, die sich dort treffen können, konsumieren, sich austauschen und, ja, auch um Handel betreiben zu können.
Was bedeutet eigentlich «mobil sein» heute?
Als Vorzeigemodell wird häufig das Prinzip der 15-Minuten-Stadt ins Feld geführt. Sprich: Arbeiten, Wohnen, Einkaufen, Freizeitmöglichkeiten und Versorgungsangebote wie Läden oder Kinderkrippe – das alles ist im Idealfall innerhalb von 15 Minuten zu Fuss oder mit dem Velo möglich. Dazu bedarf es natürlich einer schlauen, nachhaltigen Planung, die vernetzt ist und das Gesamtverkehrssystem mit der Raum- und Stadtplanung aufeinander abstimmt. Dafür existieren in der Schweiz klare Ziele, was die Verdichtung gegen innen betrifft.
«Nachhaltigkeit» ist ein beliebtes Schlagwort. Wie ist sie in Zusammenhang mit Mobilität zu interpretieren?
Der Modal Split, also die Verteilung des Verkehrsaufkommens auf die einzelnen Verkehrsmittel, müsste sich deutlich mehr zum Fuss- und Veloverkehr sowie zum ÖV hin
verlagern. Momentan liegt der Anteil des motorisierten Individualverkehrs, des MIV, deutlich über
50 Prozent. Je dichter und städtischer, desto tiefer ist dieser Anteil.
Eine weitere Herausforderung ist die steigende Bevölkerungszahl.
Städte wachsen, richtig. Heute stellen die Menschen höhere Ansprüche an ihren Lebensraum, zum Verweilen und sich Begegnen. Zugleich nimmt der Anteil des MIV zu. Gleichzeitig haben Städte begrenzt Platz, die Flächen sind nicht unendlich, die Herausforderungen gross. Städte wie Bern orientieren sich am Prinzip der sogenannten
«4 V»: Verkehr vermeiden, verlagern, verträglich gestalten und vernetzen. Ein ganzes System hängt schliesslich zusammen: Mobilität, der öffentliche Raum, die Wohnbedürfnisse und das Wirtschaften.
Hat sich hinsichtlich der Mobilität durch die Corona-Pandemie etwas Grundlegendes verändert?
Die meisten Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich die Menschen in einem ähnlichen Rahmen bewegen wie vorher, was die
«Gesamtunterwegszeit» anbelangt. Wir sind da bei einem Schnitt von etwa 90 Minuten pro Tag.
Urbanisierung, Zersiedlung, 24-Stunden-Gesellschaft: Welche Folgen entstehen daraus für die Mobilität?
Unsere Alltagsbewegungen sind fragmentierter als früher. Der höhere Konsum an Mobilität und die Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit sind Realität – von ÖV-Anbietern ist zu hören, dass die Spitzen nach der Corona-Pandemie weniger ausgelastet sind als auch schon. Das Thema Flexibilisierung scheint mir hier ein wichtiger Punkt zu sein. Wirkliche 24-Stunden-Städte finden Sie global nach wie vor nur selten, und wenn, sind es meist ausgewählte Quartiere. Geschlafen wird immer überall einmal. (lacht)
Wie sieht aus Ihrer Sicht die Stadt der Zukunft aus?
Sie ist definitiv nicht am Reissbrett skizziert – am besten würde man die Menschen fragen, was sie sich wünschen. Städte der Zukunft sind blauer, grüner und damit attraktiver. Sie florieren durch Handel, Austausch und Begegnungen. Dann nämlich haben deren Einwohnerinnen und Einwohner Lust, dort zu leben.
Yves Schott
Monika Litscher, geboren 1974, wuchs in der Ostschweiz auf. Sie studierte Ethnologie, Völkerrecht und Kulturwissenschaften. Das Thema Stadtentwicklung beschäftigt sie laut eigenen Angaben bereits seit dem Studium. Litscher war unter anderem für Fussverkehr Schweiz tätig, seit Februar 2022 arbeitet sie für den Schweizerischen Städteverband in Bern.