Antrittsvorlesung 1

«‹Zurück zur Normalität›, das finde ich problematisch»

Medizinethiker Mathias Wirth von der Uni Bern erklärt, wie wir die aktuelle Situation für Veränderungen nutzen können. Und warum die Sehnsucht nach Vergangenem trügerisch ist.

Befinden wir uns an einem heiklen Punkt der Pandemie?
Das kann man so sehen. Die aktuelle Situation könnte eine Art Fotoautomat-Moment sein: Die Infektionszahlen gehen zurück, die Impfungen wirken, die Intensivstationen sind zum Glück fast leer – eine grundsätzlich positive Stimmung also.

Aber?
Es kursieren Virusmutationen, die Herdenimmunität wurde noch längst nicht erreicht, es gibt Fälle von Durchbruchsinfektionen (Menschen, die trotz Impfung Symptome aufweisen, d. Red.). Mit anderen Worten: Die Lage kann sich leider schnell wieder ändern.

Der Punkt ist, dass im Herbst die Zahl der Corona-Fälle erneut ansteigen dürfte. Doch viele sagen: Noch so einen Winter wie den letzten stehe ich kaum durch.
Der Unterschied zum letzten Jahr, und das möchte ich wirklich betonen, liegt in den Impfungen. Es wäre falsch, diese wissenschaftlichen und medizinische Leistungen kleinzureden. Die Vakzine entfalten ihre Wirksamkeit. Deshalb ist Alarmismus fehl am Platz. Wir sollten diese Phase eher für Veränderungen nutzen.

Für welche?
Wir lernen gerade verstärkt, dass es keine zeitstabile Sicherheit gibt. Was wir als selbstverständlich erachten, ist tatsächlich sehr wandelbar. Ein dynamisches Alltagsleben, eine dynamische medizinische Entwicklung. Damit müssen wir umgehen, mit kühlem Kopf. Eine vernünftige Benefit-Risk-Kalkulation ist daher weiterhin nötig: Was müssen wir verhindern, was dürfen wir gewähren? Vermeintliche Sicherheiten sind möglicherweise trügerisch, gleichzeitig müssen wir ethische Werte wie den der Freiheit im Auge behalten. Ein Balanceakt.

Der Kanton Bern will die Zertifikatspflicht je nach Entwicklung der Lage ausdehnen. Eine gute Idee?
Die sogenannten 3G-Massnahmen machen etwas mit unserem individuellen Freiheitsgefühl. Je häufiger wir uns ausweisen müssen, desto mehr fühlen wir uns wie in einem autoritären Setting. Gleichwohl scheint mir die Zertifikatspflicht für die Gefahrenabwehr eine passable Antwort zu sein – vor allem ein guter Kompromiss.

Inwiefern?
Eine Impfpflicht wäre die weitaus strengere Form – durch die 3GMethode rückt sie zeitlich gegen hinten. So wird niemand zur Impfung gezwungen, zum Schutz der Allgemeinheit nehmen wir mit dem Minimum des Testens hingegen eine leichte Einschränkung unserer Freiheitsrechte in Kauf. Andererseits will ich nicht unterschlagen, dass auch dieses System gewisse Probleme mit sich bringt – auf einer eher abstrakten Ebene.

Nämlich?
Am Anfang der Pandemie mussten wir uns an analoge Abstandsregeln und Masken gewöhnen. Jetzt also digitales 3G. Das führt zu einer Art Umstellungsschmerz. Wir modifizieren erneut Gewohnheiten der Bewegungsfreiheit.

Das heisst, Sie haben für Impfskeptiker ein gewisses Verständnis?
Wir sind stets die besten Experten unseres eigenen Lebens. Wir selbst wissen am genauesten, wie und wo wir uns bewegen und wie unser Alltagsprofil aussieht. Diese Feststellung an sich überrascht zwar nicht wirklich. Sie hilft indes zu verstehen, wieso es zu Aversionen kommt, obwohl diese aus medizinischer Sicht kaum nachvollziehbar sind. Das zweite Argument in diesem Zusammenhang lautet: Es gibt keine staatliche Macht ohne Resistenz. Überall dort, wo der Rechtsstaat – in diesem Fall zu Impfungen – drängt, treten solche Bewegungen auf den Plan.

Und das Zertifikat ist eine Möglichkeit, damit umzugehen?
Indirekt ja. Denn es ist ein Kompromiss mit verschiedenen Optionen. Manche erkennen bereits darin ein autoritäres Fehlverhalten der politisch Verantwortlichen. Die öffentliche Debatte wird diese und weitere Entwicklungen begleiten.

Wobei die meisten Medien, wenn nicht als Fake News, so oft als einseitig und staatstreu gegeisselt werden.
Die Medien haben grundsätzlich zwei Aufgaben. Erstens: Information. Sie muss so kommuniziert werden, dass die breite Bevölkerung sie versteht. Ich finde, die Presse hat das während der Pandemie grösstenteils vorbildlich gelöst, sonst wären solch hitzige Debatten gar nicht möglich. Zweitens: kritische Berichterstattung. Auch dieser kamen die Medien meist gut nach. Skeptische Stimmen wurden angehört, der Wissenschaft wiederum bot sich so die Gelegenheit, zu präzisieren und zu verifizieren. Eine generelle Medienschelte leuchtet mir daher nicht ein.

Doch wie gehe ich damit um, wenn sich herausstellt, dass mein Arbeitskollege oder die beste Freundin auf einmal mit Verschwörungstheorien sympathisiert?
Ein ganz heikler Punkt, der uns vor Augen führt, dass unsere Entscheidungen immer auf einer Kombination aus Emotionen und Rationalität basieren. Diese zwei Komponenten müssen zwar kein Widerspruch sein, sind es allerdings manchmal eben trotzdem. Rationalität können wir meist ziemlich gut darlegen, Emotionen weniger. Wo es brenzlig wird, sollte der Fokus deswegen klar auf Fakten liegen, die für alle zugänglich sind. Raum lassen für Gefühle: unbedingt. Am Ende hingegen sollte das beste Argument gewinnen. Klingt sehr theoretisch, man sollte diesen Gedanken allerdings unbedingt im Hinterkopf behalten.

Wie geht es mit unserer Gesellschaft weiter? Jeden Winter ein Lockdown und stetige Impfauffrischungen – das kann es doch nicht sein.
Wir alle sehnen uns auf die eine oder andere Art nach dem, was wir vor Corona an Unbedarftheit ausleben durften. Darin steckt etwas sehr Menschliches, aber auch etwas Trügerisches. Den Ausdruck «Zurück zur Normalität» finde ich hingegen problematisch.

Wieso?
Er ist retrograd. Es bedeutet, aus den Erfahrungen nichts lernen zu wollen. Doch gerade das haben wir ja: Wir haben zum Beispiel eine neue Sensibilität für Infektionskrankheiten entwickelt. Das globale Gemeinschaftsgefühl ist gewachsen. «Ich schütze meinen Hinterhof, aber Nachbars Garten ist mir egal» – mittlerweile schwer vorstellbar. Uns wurde die Endlichkeit der Ressourcen bewusst, eine neue Form von Kommunikation hat sich entwickelt. Wir sollten Denken und Handeln der Wirklichkeit anpassen und nicht das Umgekehrte versuchen. Wozu das führen kann, zeigt sich jetzt bei der Umweltthematik schonungslos.

Trotzdem: Niemand möchte noch jahrelang mit einer Maske einkaufen gehen.
Stimmt, sich von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, selbst an der Kasse, scheint uns wichtiger als vielleicht gedacht. Andererseits schützt es, wie das Abstandhalten. Die anderen immer primär als Gefahr zu sehen, das ist in der Tat schwer vorstellbar. Aber wir haben in den letzten Monaten bei den Freiheitsund Bewegungsmöglichkeiten viel erreicht. Deshalb werden uns Elemente wie die Maskenpflicht, die wir in der Pandemie quasi erworben haben, noch eine Weile lang begleiten. Es stehen also nach wie vor einige Unbekannte im Raum.

Was macht Ihnen Mut?
Die Moralerfahrung der Gleichheit während der Pandemie, weil wir alle in einer jedenfalls irgendwie vergleichbaren psycho-physischen Situation steckten und stecken. Bei allem Schrecken geht es selten wie nie um Horizonte des guten Lebens.

Yves Schott

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