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«Zustände, die man in der Schweiz für unmöglich hält»

Der Bündner Otmar Deflorin ist Berns Kantonschemiker und dafür verantwortlich, dass in Beizen und anderen Lebensmittelbetrieben die Hygienevorschriften umgesetzt werden. Er sieht teils haarsträubende Dinge.

Herr Deflorin, essen Sie noch auswärts im Restaurant?
(Lacht) Ja, auf jeden Fall! Im Kanton Bern, aber auch sonst wo in der Schweiz kann man grösstenteils bedenkenlos in Restaurants essen. Und wenn das nicht so wäre, würden wir diese Betriebe schliessen oder andere Massnahmen ergreifen.

Gibt es in der Stadt und in der Region Bern Gaststätten, die Sie persönlich meiden?
Ja, aufgrund meines passiven Wissens gibt es sie natürlich. Wenn ich weiss, dass dort beispielsweise eine Strafanzeige hängig ist, besuche ich dieses Restaurant nicht privat.

Melden sich Ihre Inspektoren vorher bei den Betrieben an?
Die Kontrollen finden in der Regel unangemeldet statt. Klar, unsere Kontrolleure kommen aus der Sicht der Betriebe immer irgendwie ungelegen! Wir möchten aber den Normalfall erleben und kontrollieren während der regulären Öffnungszeiten. Bei grossen Lebensmittel-Produktionsbetrieben wie zum Beispiel Nestlé oder Emmi vereinbaren wir vorher einen Termin, damit die zuständigen Ansprechpersonen anwesend sind.

Machen Sie Lebensmittelkontrollen hie und da zur Chefsache und kontrollieren selbst?
Rund zehnmal pro Jahr besuche ich zusammen mit einem Inspektor einen Betrieb, um die Praxis zu spüren, um den Kontakt zu den Betrieben nicht zu verlieren, aber auch, um die Arbeitsweise meiner Mitarbeitenden zu kennen.

Was wird in einem Restaurant konkret kontrolliert?
Ein Kebab-Stand wird natürlich anders kontrolliert als ein Gault-Millau-Restaurant. Ein Augenmerk wird auf die Selbstkontrolle gelegt, wozu die Betriebe verpflichtet sind. Werden die Aufzeichnungen gemacht, die Temperaturen eingehalten, die Wareneingänge kontrolliert; sind die Geräte sauber, gibts Arbeitsanweisungen? Je nachdem werden Laborproben erhoben von vorgekochten Teigwaren, von der Pâtisserie, vom Aufschnitt fürs Buffet. Am Schluss gibts eine Besprechung mit dem Betriebsverantwortlichen und Anweisungen, was bei Mängeln bis wann verbessert werden muss.

Wird nochmals kontrolliert, ob die Weisungen umgesetzt wurden?
Manchmal kontrollieren wir das aufgrund der nächsten Inspektion. Oder wenn beispielsweise ein Kühlschrank revidiert werden muss, verlangen wir eine Bestätigung des Reparaturdienstes. Es kommt aber auch vor, dass wir nach kurzer Zeit eine Nachinspektion vornehmen, wenn wir unsere Zweifel haben.

Wie oft wird ein Betrieb kontrolliert?
Unsere Kontrollen werden regelmässig und risikobasiert durchgeführt. Wo ein grösseres Risiko besteht, kontrollieren wir häufiger. Dieses Risiko hängt ab von der Betriebsgrösse und von den Produkten, die hergestellt werden. Wer Fleisch oder Fisch herstellt, trägt ein grösseres Risiko als jemand, der Essig oder Wein produziert. Wenn ein Betrieb bei einer Kontrolle ohne Beanstandungen abschliesst, dann wird das Kontrollintervall länger. Je mehr Mängel festgestellt werden, desto häufiger kontrollieren wir. Gastwirtschaftsbetriebe müssen mindestens alle zwei Jahre einmal kontrolliert werden. Bei grösseren Beanstandungen sieht man uns unter Umständen nach einem halben Jahr wieder!

Welches sind erfahrungsgemäss die häufigsten Beanstandungen?
Vielerorts sind es die Selbstkontrollen, deren Notwendigkeit nicht genügend erkannt wird. Oft sind dann halt die entsprechenden Prozesse wie Reinigung, Lebensmittellagerung etc. als Folgeerscheinung mangelnder Selbstkontrolle ungenügend. Trotz heute verbesserter Kühlmöglichkeiten müssen wir jede dritte mikrobiologische Probe, die wir erheben, beanstanden. Wir erheben nicht den am Vormittag gekochten Reis am Nachmittag als Probe, sondern wir wählen Produkte, die bereits vor einigen Tagen vorgekocht worden sind.

Ab wann ist ein Restaurant für Sie eine «Grüselbeiz»?
Letztes Jahr mussten wir im Kanton Bern fünf Betriebe – nicht alles Restaurants – schliessen. Es ist schwierig, einen «Grüselbetrieb» in Worte zu fassen. Es sind einfach desolate hygienische Zustände mit vergammelten Lebensmitteln. Es gibt Zustände, die man in der Schweiz für unmöglich hält. Meistens sind die betreffenden Personen auch sonst überfordert.

Wie steht die Stadt Bern im Vergleich zu anderen Städten da?
Nicht besser oder schlechter als der Durchschnitt in anderen Schweizer Städten. In den Städten stellen wir aber allgemein einen häufigen Wechsel der Betriebsverantwortlichen fest. In der Stadt Bern wechselt jedes Jahr rund ein Drittel der Betriebsverantwortlichen. Es kommen neue Leute mit neuen, teils kreativen Ideen, aber manchmal ohne entsprechende Berufsausbildung. Dort brauchts viel Überzeugungsarbeit, um die Leute auf die Schiene zu kriegen.

Was passiert mit fehlbaren Betrieben?
Es gibt zwei Gleise: Die verwaltungs- und die strafrechtlichen Massnahmen. Bei den verwaltungsrechtlichen Massnahmen beanstanden wir die Mängel und setzen einen Termin für deren Behebung. Wenn ein Kühlschrank nicht die erforderliche Temperatur erzeugt, setzen wir per Verfügung die Frist für die nötige Temperatur. Ob der Wirt das Gerät reparieren lässt oder gar durch ein neues ersetzt, schreiben wir nicht vor. Wenn in einem Betrieb alles okay ist, kostet es nichts und sonst bezahlt er eine Gebühr. Verwaltungsrechtlich ist dieser Fall erledigt. Bei grösseren Mängeln verlangen wir auch einschneidendere Massnahmen, die Gebühr ist dann entsprechend höher, zudem gibts eine Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft. Diese entscheidet, ob zusätzlich eine Busse ausgesprochen wird oder nicht.

Im schlimmsten Fall schliessen Sie den Betrieb?
Ja, der Kontrolleur entscheidet vor Ort, und zwar subito. Der Wirt oder die Wirtin kann die Beträge für die Gäste-Konsumationen noch einziehen, dann ist die Küche geschlossen. Ich erinnere mich an eine Küche, die aussah wie bei einem Messie: völlig überstellt, kein Zentimeter freie Arbeitsfläche, eine Trennung von rein und unrein war nicht mehr möglich.

Wie ging es dort weiter?
Wir schlossen den Betrieb und gaben dem Betreiber die Möglichkeit, zu entrümpeln und zu reinigen. Nach zwei Tagen kontrollierten wir erneut, die Küche war nicht wiederzuerkennen! Sie war frisch gestrichen und erstrahlte in neuem Glanz. Das vergammelte Material musste fachgerecht entsorgt werden, was wir ebenfalls kontrollierten. In solchen Fällen tauchen wir bereits nach einigen Wochen wieder auf und vergewissern uns, ob der Betrieb nun comme il faut läuft. Es gibt tatsächlich solche, die kriegen das auf die Reihe, das sind dann die Aufsteller. Andere wiederum nicht…

In welchen Lebensmittelbetrieben gibts am häufigsten Mängel?
Am häufigsten in den Restaurants, weil es davon am meisten gibt. Die Gastronomie ist natürlich auch sehr vielseitig, vom kleinen Imbissstand bis zum Fünfsternebetrieb. Es wäre aber falsch zu glauben, die Mängel seien bei der Imbissbude am häufigsten und beim hochbewerteten Sternerestaurant gebe es nichts zu beanstanden. Es steigt und fällt mit den Betriebsverantwortlichen. Wenn jemand eine riesige Speisekarte hat, vom Tagesteller über Pizza bis hin zu asiatischen Dim Sum, da kann unmöglich alles frisch hergestellt werden! Da ist die Gefahr, dass etwas schiefläuft, zwangsläufig grösser.

Woran erkenne ich als Laie ein sauberes Restaurant?
Die Besichtigung der Toilette ist nach wie vor ein verlässlicher Anhaltspunkt. Aber man beginnt beim Restaurantbesuch eher selten bei der Toilette! Restaurants mit offenen, einsehbaren Showküchen geben einen guten Hinweis auf die Sauberkeit. Schwieriger wirds, wenn im Gästeteil alles piekfein erscheint und im Verborgenen gehts erbärmlich ab. Wenn nur sogenannte Künstler am Werk sind, doch nur wenige, die reinigen. Die Kriterien der Lebensmittelkontrolle sind nicht unbedingt mit jenen des Gastes identisch.

Welche Restaurant-Kategorie bevorzugen Sie selbst?
Kein Schnickschnack, eine gutbürgerliche Küche mit kleiner Karte und frischen Produkten. Ich esse gerne Fleisch…

Peter Widmer

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