Urs Fueter ist der letzte verbliebene Liegenschaftsbesitzer und Bewohner in der Berner Innenstadt, dessen Haus seinen Familiennamen trägt. Der Spross einer traditionsreichen Berner Dynastie ist besorgt über die Entwicklung der Einkaufszone Berner Innenstadt. Zum ersten Mal äussert sich Fueter öffentlich und nimmt dabei sowohl Kunden als auch die Geschäftsinhaber sowie die Liegenschaftseigentümer ins «Gebet».
Es war einmal
Nein, früher war nicht alles besser. Aber schöner wars, bunter und gemütlicher. Wenn es regnete, führte der Sonntagsspaziergang durch die Stadt. Mama stellte im Geiste die Einkaufsliste für die Woche zusammen, Papa studierte die Auslage im Eisenwarengeschäft und die Kinder überarbeiteten ein weiteres Mal den Wunschzettel für das Christkind, den Osterhasen und den Götti. Die Schaufenster waren wie die Schürze der Mutter: Schau, das ist alles für Dich. Nimm, was Dir Freude macht. Wenn man in die Geschäfte ging, wusste man vor lauter Auswahl nicht, was man eigentlich suchte. Meistens waren die Einkaufstaschen am Ende des Tages doch etwas voller als eigentlich geplant. Die Verkäufer waren charmant und geschickt. Das war ihr Beruf und sie liebten ihn. Die kleinen Trams warteten geduldig, bis alle eingestiegen waren, die mitfahren wollten. Und wer von weitem hergerannt kam, durfte auch noch mitfahren. Schliesslich ging es ja darum, die Passagiere durch die Stadt zu fahren. Und nicht nur das Tram. Der Fahrplan war eine Orientierung, kein Befehl. Auf der Gasse konnten die Handwerker und Lieferanten ihre Autos so lange stehen lassen, bis sie mit ihrer Arbeit fertig waren. Man schaute etwas mehr auf die Arbeit und etwas weniger auf die Uhr. Der Gedanke, dafür eine Parkbusse zu bekommen, war den Menschen so fremd wie die Vorstellung, dass eines Tages ein Telefon in der Hosentasche klingeln würde. Nicht selten waren die Liegenschaften der Innenstadt für die Eigentümer Brotkorb und Zuhause in einem. Entsprechend war man bemüht, dass das Haus «e Gattig» machte. Die Geranien vor den Fenstern waren ein fröhliches Muss und am Abend kehrte man vor der eigenen Türe – im wahrsten Sinn des Wortes. Man ging die Verkäufe des Tages durch und organisierte die Lieferungen zu den Kunden am nächsten Tag. Lieferung direkt nach Hause – das gab es auch schon früher. Man nannte es «Unser Chauffeur wird es bringen. Um wieviel Uhr wäre es Ihnen recht?» Ja, liebe Kinder, so war es. Das ist kein Märchen. Fragt eure Eltern (oder vielleicht doch besser die Grosseltern). Und der Onkel, der euch das erzählt, ist auch noch keine 60.
Schönheit kann rentabel sein
Und heute? Nun, heute ist es – seien wir höflich – ein bisschen anders. Oder seien wir nicht gar so zurückhaltend und nennen das Kind beim Namen: Es ist triste und kalt geworden in unserer Stadt. Flanieren in der Stadt? Augen zu und so schnell wie möglich wieder raus. Was sehen wir heute in vielen Schaufenstern? Grosse Tafeln mit Zahlen darauf; -40%, -50%, -70%. Kurzfristig wirksam und morgen schon verflogen. Wer heute Rabatt gewährt, war gestern zu teuer. Wenn wir etwas brauchen und es auch gleich mitnehmen möchten: «Nein, lieber Kunde, das geht nicht. Sie können jetzt bestellen und es in 3 Tagen bei uns abholen». Richtig, da ist das Internet wirklich bequemer. Wirte und Detailhändler sind Weltmeister im Klagen: «Wir finden keine guten Fachleute!» Zahlt eure Leute recht und beteiligt sie am Erfolg. Das nennt man Motivation. «Wie geht es im Geschäft?» «Gestern war es ganz okay, heute miserabel.» Rechnet übers Jahr und beklagt euch nicht, wenn die Kunden bei 31 Grad Aussentemperatur in der Aare sind und nicht in euren Geschäften. Seid dann parat, wenn die Kunden bei euch im Laden stehen. Aber dann seid es richtig! Und wie sieht es mit den Häusern aus? Viele Familien haben ihre Liegenschaften verkauft. Das Zepter haben nun die Buchhalter in der Hand, die Analysten und die neue Managergeneration, die manchmal auch mit jung, dynamisch und erfolglos umschrieben wird. Ihre Welt besteht aus Zahlen; aus kurzfristigen Zahlen. Für sie ist der beste Handwerker derjenige, der die tiefste Offerte einreicht. Die Stadt hats vorgemacht. Aber auch die Schönheit kann auf lange Sicht rentabel sein. Kurzfristig macht sie «nur» Freude. Man nennt das Lebensqualität. Und jetzt, was sollen wir tun? Ein letztes Mal durch die Gassen streifen und aufpassen, dass uns das Tram nicht überfährt? Ein letztes Selfie vor dem verbarrikadierten Kaiserhaus, ein letztes Rübli in den Steinbruch des alten Bärengrabens – und dann: tschüss, altes Bern?
Böses Internet? Come on!
Wegschauen oder weggehen ist eine Variante. Die andere Möglichkeit ist, dass wir uns wieder mit mehr Herzblut engagieren. Ein neues Geschäftsmodell müssen wir nicht erfinden. Es reicht, wenn wir es wieder so gut machen wie die Generationen vor uns. Das böse Internet – der allgegenwärtige, übermächtige Feind des Detailhandels? Come on! Die Wünsche und Träume der Menschen sind heute nicht nicht viel anders als früher. Wir stellen immer noch die Wunschliste für den Osterhasen und das Christkind zusammen. Wir lassen uns immer noch von Mamas voller Schürze verzaubern. Wir geniessen immer noch das wohlige Gefühl, als guter Kunde wiedererkannt zu werden. Der rote Teppich, den man uns ausrollt, schmeichelt und verführt uns immer noch. Belogen wollen wir nicht werden. Aber ein bisschen Verführung, warum auch nicht? Es ist Frühling, die Natur macht es uns gerade vor. Wen einzig Zahlen interessieren, soll sein Haus verkaufen und mit dem Geld an die Börse gehen. Wer ein Haus hat, braucht Herz, gesunden Menschenverstand und einen ein i g e r m a s s e n stilsicheren Geschmack. Und das Stadtbild: ein paar Bäume auf dem Casino-, Kornhaus- oder Waisenhaus – platz – ginge das wirklich nicht? Über den Mittag sein Brot unter einem Kastanienbaum zu essen – da würde «Bern ist grün» plötzlich Sinn und Freude machen. Und Weihnachten, die festliche Zeit, in der wir das Licht und das Kind in uns suchen: Was hält die Obere Altstadt davon ab, die gleichen liebenswürdigen Christbäumchen an die Fassade zu stellen wie die Untere Altstadt? Wir hatten das schon einmal, und schön wars. Vielleicht können wir sogar die Stadt überzeugen, doch etwas weniger Trams und Busse durch die Marktgasse fahren zu lassen und damit dem Begriff «Fussgängerzone» etwas gerechter zu werden. Und ihr, liebe Kundinnen und Kunden, verzeiht uns unseren Schlendrian. Wir sind faul und nachlässig geworden. Wir sassen auf dem hohen Ross der «besten Lage in der Berner Innenstadt». Wir haben euch als selbstverständlich genommen. Aber bitte: glaubt auch nicht alles, was im Internet steht. Es ist nicht alles wahr, was da funkelt und glitzert; nicht alles ist besser und günstiger. Nicht umsonst ist der Gründer von Amazon der reichste Mann der Welt geworden… In Anlehnung an Goethes Faust («Oh Augenblick, verweile doch, Du bist so schön!») möchte ich bald wieder sagen können: «Oh gutes Bern, verführe mich, Du bist so schön!»
Urs Fueter