Rollentausch in der MigrosFiliale Lorraine in Bern: Statt die Anweisungen der Chefs zu befolgen, übernehmen 23 Lernende während zwei Wochen das Tagesgeschäft.
Im Lorraine-Quartier ist es noch dunkel und kalt, als eine dick eingemummte Person um 6 Uhr morgens auf die Migros-Filiale zusteuert. Der junge Mann öffnet die Tür am Seiteneingang und tritt herein. Für den 20-jährigen Marc Tschanz beginnt ein Tag, den er nicht so schnell vergessen sollte. In den Büroräumlichkeiten im Untergeschoss begrüsst Marc Tschanz die Arbeitskollegen. Dann geht er zur Garderobe, wechselt seine Arbeitskleidung und steckt sich das Namensschild an. «Marktleiter» steht darauf geschrieben. Nun irrt, wer denkt, dass der Detailhandelsfachmann im 4. Lehrjahr ein falsches Namensschild trägt. Marc Tschanz wird ab 8 Uhr tatsächlich als Filialleiter fungieren.
Lernende haben zwei Wochen das Sagen
Marc Tschanz hat sich für das Projekt «Next Generations Week» der Genossenschaft Migros Aare beworben. Vom 3. bis 15. Februar wird die Filiale Lorraine von 23 Lernenden geführt. Tschanz und die 22 anderen Auszubildenden arbeiten gewöhnlich in einer der 22 Migros-Filialen der Stadt Bern und Umgebung. Die Lernenden vertiefen in den zwei Wochen ihre bereits erworbenen Kenntnisse und setzen sie in die Praxis um. Begleitet werden die neuen Führungskräfte von zwei Coaches. Die arrivierten Mitarbeitenden der Filiale Lorraine arbeiten während dieser Zeit in anderen Filialen oder beziehen Ferien. «Durch die Führung einer ‹eigenen› Filiale werden Sozial-, Fachund Methodenkompetenz gefördert. Zudem hat das Projekt aufgrund der Selektionskriterien einen positiven Einfluss auf die Motivation und die Leistung der Lernenden. Ich räume daher gerne meinen Sessel und gebe den Stab an Marc Tschanz weiter», sagt der temporär «abgesetzte» Marktleiter Shaip Avdullahi, der im Laden zwar diskret präsent ist, aber nur im Notfall als Verantwortlicher des Ladens einschreiten würde.
Akribische Vorbereitung
Um 6.30 Uhr schaltet Marc Tschanz den internen Radiosender an, über den im Verlauf des Tages Musik, Werbespots und Aktionen abgespielt werden. Er startet das Kassensystem, sorgt für eine saubere Geldbewirtschaftung, kontrolliert das Umsatzziel des Vortages und vervollständigt auf einem Flipchart die Umsatzzahlen. Dann betritt er den Laden. Nach der Anwesenheitskontrolle fragt er die Mitarbeitenden, ob alles in Ordnung sei oder ob sie Verstärkung bräuchten. Nach einem letzten Kontrollblick auf die Ladenbrücke öffnet Marc Tschanz um Punkt 8 Uhr morgens die Eingangstüren. «Chef von 22 Mitarbeitenden zu sein, ist eine coole Aufgabe. Ich versuche, mit einem motivierenden Führungsstil für eine gute Atmosphäre zu sorgen», sagt Marc Tschanz. Und fügt an: «Ich finde dieses Projekt sehr bereichernd. Ich könnte mir gut vorstellen, dereinst Marktleiter zu werden.»
Willkommene Abwechslung
Arta Fejzulahi füllt gerade Gurken und gelbe Peperoni ins Regal. Am frühen Morgen hat die 18-jährige Bümplizerin bereits Brot gebacken und die Take-away-Spezialitäten von Migros Daily zubereitet. Sie arbeitet sonst im Migros-Supermarkt an der Marktgasse. Arta Fejzulahi ist im dritten Lehrjahr und bildet sich zur Detailhandelsfachfrau Flower aus. «Mir gefällt es, neue Erfahrungen zu sammeln. Es ist aufschlussreich, andere Filialen und Abteilungen zu besuchen», schwärmt die junge Frau. Und vergleicht: «In der Lorraine sind die Kunden jünger und gestresster als im Supermarkt an der Marktgasse, wo ein kurzes Gespräch eher möglich ist.»
Rollentausch macht Spass
Edmon Muhaxheri arbeitet an diesem Morgen in der Metzgerei. Er sortiert Fleisch, nimmt abgelaufene Ware aus dem Regal und holt im Lager fehlende Produkte. Mit einem mobilen Gerät überprüft er das Sortiment. Je nach Situation bestellt er nach. Der 17-jährige Niederwangener befindet sich im zweiten Lehrjahr. Er bildet sich in der Migros-Filiale Belp zum Detailhandelsfachmann Nahrungs- und Genussmittel aus. «Ich verrichte in Belp, wo ich in der Abteilung Kolonialwaren tätig bin, das dreifache Pensum meiner Arbeit, die ich in der Lorraine erledige», sagt Edmon Muhaxheri. Und klärt auf: «In der kleinen Migros-Filiale Lorraine, die gerade mal drei Kassen hat, sind wir 23 Personen. Da hilft man sich gegenseitig aus, und dies fördert den Zusammenhalt im Team. Mir macht der Rollentausch auf jeden Fall Spass.»
Das Lob der Stammkundin
Shaip Avdullahi zieht am Abend ein positives Fazit: «Die Lernenden legen sich mächtig ins Zeug. Ihnen fehlt vielleicht noch etwas die Lockerheit. Sie wollen es fast zu perfekt machen. Trotz fehlender Erfahrung haben sie das Tagesgeschäft tadellos erledigt.» Das Lob einer älteren Stammkundin hat Shaip Avdullahi besonders gefreut. «Sie sagte mir, dass die Lernenden überaus freundlich seien.»
Thomas Wälti